Freitag, 26. Oktober 2012

Scripted Reality

In zehn oder zwanzig Jahren wird man auf die heutige Zeit zurückblicken und sich verwundert fragen, weshalb viele bei der Entstehung von Scripted Reality so hysterisch und empört reagiert haben, ohne zu erkennen, dass hier nichts anderes als eine neue Kunstform erschaffen wurde.

Wie, was, wo?

Scripted Reality eine Kunstform? Das ist doch "Unterschichten-Müll". Scripted Reality ist das böse Zeug, das Qualität wie "Breaking Bad" oder "Homeland" ins Nischenprogramm verbannt.

Ich gestehe hier offen: Ich gehörte lange Zeit zu denen, die diese Meinung teilten. Zum einen, weil mich Scripted Reality aufgrund seiner Durchschaubarkeit nicht interessierte (Ignoranz). Und weil diese Scripted-Reality-Formate aktuell dazu genutzt werden, dummdreiste Vorurteile gegenüber sozial Benachteiligten zu stärken.

Erst einige Ausschnitte aus der Scripted-Reality-Sendung "Pures Leben" in einer Sendung von Oliver Kalkofe überzeugten mich endgültig davon, dass hier tatsächlich eine neue Kunstform geschaffen wurde. Die Bilder von einer dicken Frau, die in Mülltonnen nach Essen sucht und einfach nur frech ist, sind so anarchistisch, dreist, provokant und drastisch, dass es für mich alle Kriterien erfüllt, die echte Kunst ausmacht. Das, wofür man früher einen John Waters gebraucht hat, ist nun also im Mainstream angekommen. Eine bessere Gegenbewegung zum geleckten Hollywood mit seinen Photoshop-Avateren und den sterilen Kulissen ist schlichtweg nicht denkbar.

Und nein: Echte Kunst besteht nicht darin, dass man hochbezahlte Stars, teuere Special Effects oder mainstreamige Soundtracks hat. Genau das zerstört zur Zeit die Kunst, wie man an seelen- und witzlosen Kinoproduktionen sehr gut beobachten kann. Camerons "Avatar" ist technisch ein Fortschritt, künstlerisch aber eine Katastrophe. (Übrigens ein Film, der ebenso lachhafte Klischees bedient wie jede Scripted Reality.)

Natürlich kommt hier immer wieder das Argument auf, dass bei Scripted Reality Menschen "vorgeführt" werden. Warum aber werden hier Menschen vorgeführt? Aus einem einzigen Grund: Weil einige Zuschauer das Gezeigte für echt halten. (Niemand käme auf die Idee, Charlize Theron würde in einem Film wie "Monster" "vorgeführt".) Ich las kürzlich die empörte Meldung, dass jeder zweite Zuschauer Scripted Reality für "echt" hält. Für mich eine gute Nachricht. Bedeutet es doch: Bereits jeder zweite Zuschauer hält Scripted Reality für nicht echt. Das wird sich mehr und mehr durchsetzen. Als die Menschen das erste Mal auf einer Leinwand einen Zug heranbrausen sahen, sind sie angeblich in Deckung gegangen. Doch Menschen lernen. Früher waren es getürkte Wrestling-Matche, heute ist es eben Scripted Reality.

Im Moment verhält sich die Scripted-Reality-Industrie noch ein wenig wie die Porno-Industrie. Mit Knebelverträgen werden Menschen zu Dingen genötigt, die manche von ihnen dann vielleicht doch nicht tun wollen. Das wird sich aber genau dann ändern, wenn Scripted Reality als Kunstform erkannt und etabliert ist. Bereits heute wagen es Darsteller wie Wil Wheaton oder Matt LeBlanc, sich in Serien wie "The Big Theory" oder "Episodes" unter ihrem echten Namen als Arschloch darzustellen. Einfach, weil sie Vertrauen darin haben, dass der Zuschauer dies als Spiel durchschaut. Und es wird der Tag kommen, an dem Teilnehmer und Zuschauer von Scripted Reality wissen, was sie zu erwarten haben. Die Inszenierung wird in den Vordergrund geraten, und die wahre Person wird sich wie ein Schauspieler hinter der Fassade verstecken können.

Es wäre unfair zu behaupten, dass nahezu alle Scripted-Reality-Formate dummdreiste Vorurteile über Dicke, Hartz-IV-Empfänger oder Menschen in der Schuldenfalle bedienen. Die meisten Scripted-Reality-Formate behandeln etwas, das viele beschäftigt: Die Partnersuche. Das ist ein Thema, das wahrscheinlich schon so hinreichend behandelt wurde, dass es mit den etablierten Kunstmedien gar nicht mehr darstellbar ist. Was die ärgerlichen Scripted-Reality-Formate mit Vorurteilen gegenüber sozial Benachteiligten angeht: Dabei handelt es sich leider um genau die Vorurteile, die in unserer Gesellschaft seit langem kursieren. Dass es bei Scripted Reality "besonders schlimm" ist, weil der Zuschauer das Gezeigte für "echt" hält, sehe ich auch nicht. Viele glauben auch an die Verlässlichkeit von Schlagzeilen in der Bildzeitung, von geschönten Statistiken in der Tagesschau und von angeblich selbst recherchierten Artikeln auf Spiegel online, die in Wahrheit aus dem Dunstkreis der von Arbeitgeberverbänden gegründeten Initative Neue Markwirtschaft stammen. Angesichts dessen entpuppt sich die Scripted Reality sogar noch als harmloses, da schnell durchschaubares Mittel zur Meinungsmache.

Wer sich Filme aus den 1960er Jahren ansieht, der findet dort auch unendlich viele Vorurteile gegenüber Frauen, Schwulen und "Zigeunern". Das allein spricht aber nicht gegen die Kunstform "Film". Und so ist es auch bei Scripted Reality. Mit den Stilmitteln von Scripted Reality könnte man genauso gut das Leid von Mobbing-Opfern, die verzweifelte Jobsuche von Arbeitslosen, das aussichtslose Abrackern von "Hartz-IV-Aufstockern", die Demütigung von "Tafel-Gängern" oder die Tragik einer Magersucht eindrucksvoll darstellen. Und vielleicht sogar authentischer und nachhaltiger als bei manch einer gekünstelten Kino- oder Serienproduktion. Um das zu erreichen, genügt es aber nicht, das Format Scripted Reality zu verdammen. Vielmehr sollte man Scripted Reality als Kunstform anerkennen und vorantreiben.

Scripted Reality vermengt Stilmittel, die im Grunde alt sind, auf originelle Weise neu. Zum einen ist da natürlich nach wie vor das klassische inszenierte Drama, das hier mit den Mitteln des Improvisationstheaters arbeitet. Eine Improvisation, wie sie so wahrscheinlich tatsächlich nur von Laien überhaupt zu erbringen ist. Doch hier bleibt Scripted Reality nicht stehen. Ganz im Stil von Brecht wendet sich immer wieder der Laiendarsteller direkt ans Publikum. Jetzt plötzlich ist auch Blickkontakt mit der Kamera erlaubt, und der Laiendarsteller kann seine Motive erklären und das soeben gezeigte reflektieren.

Besonders positiv fällt mir folgendes an Scripted Reality auf: Es gibt wieder den klassischen Erzähler, der aus dem Off zu hören ist. Das ist ein Element, das unverständlicherweise in zu vielen Filmen fehlt, obwohl Filme wie "Die zauberhafte Welt der Amelie" gezeigt haben, wie gewinnbringend so eine Erzählerstimme ist. Eine wesentliche Funktion spielen bei Scipted Reality auch die immer wieder aufploppenden Texteinblendungen. Damit nutzt Scripted Reality alle zur Verfügung stehenden erzählerischen Mittel: Texteinblendungen, Erzählerstimme und improvisiertes Theater.

In einer gut gemachten Scripted Reality folgen all diese Stilmittel in einem so schnellen Tempo, dass eine Serie wie "24" auch nicht mehr Drive hat. Und das wohlgemerkt ganz ohne Special Effects oder anderen Schnickschnack, mit denen Leute wie Michael Bay heutzutage davon ablenken, dass sie nichts zu erzählen haben.

Der bei Scripted Reality offensichtliche Verzicht auf Studio-Kulissen folgt im Grunde der Dogma-95-Bewegung, die 1995 von dänischen Filmregisseuren wie Lars von Trier als neue Kunstbewegung eingeführt wurde. Damals wurde das bejubelt. Endlich, so hieß es, gehe man weg vom Effekte-Kino, hin zu dem, was Film ursprünglich war. Das war schon damals großer Schwachsinn. Kino und Effekte sind eine Einheit, Filme wie "Metropolis" oder "Goldrausch" sind ohne Effekte nicht denkbar und gerade dadurch so berühmt geworden.

Jetzt wurde aber Dogma-95 doch eingeführt. Und zwar vollkommen stimmig in einer eigens dafür geschaffenen Kunstform: Der Scripted Reality.

Werde ich mir in Zukunft Scripted Reality ansehen? Nein. Ich habe ja noch nicht einmal einen Fernseher. Aber ich werde mich nicht mehr dem elitären Gejammer anschließen. Die Forderung, dass man stattdessen "bessere" Programme produzieren oder die besseren Sachen zu besseren Zeiten senden soll, ist doch in Zeiten von unendlicher Programmvielfalt, DVD und Festplatten-Recordern lächerlich und folgt dem bereits in den 1970er Jahren geäußerten Wunsch, das ZDF solle doch keinen infantilen Käse wie "Dalli Dalli" verzapfen und stattdessen echte Kunst zeigen. Heute gilt "Dalli Dalli" als TV-Kult, die Forderung von damals erscheint heute absurd, während man sich gleichzeitig um das aktuelle Programm sorgt. Fakt ist doch: Damals hätte man von einer Serien- und Qualitätsvielfalt wie der von heute nur träumen können.

Als das vom Hollywood-Glamour verwöhnte Publikum plötzlich im Kino Filme wie "Easy Rider" oder "Taxi Driver" sah, waren nicht wenige entsetzt. Und die Argumente waren damals nicht anders als heute. Falsche Vorbilder, Kultur- und Niveaulosigkeit, alles nur furchtbar. Jetzt wiederholt es sich beim Scripted Reality. Nur dass die, die sich damals "Easy Rider" begeistert angesehen haben, heute zu denen gehören, die über den neuen Trend empört den Kopf schütteln.

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