Freitag, 3. September 2010

Deutschland liest sich blöd

Wenn die Deutschen auf etwas stolz sein können, dann darauf, dass sie es geschafft haben, nach einer der umenschlichsten Diktaturen der Weltgeschichte eine vorzeigbare Demokratie zu entwickeln. Es ist zwar haarsträubend, wenn man bedenkt, wie viele Millionen Menschen für diesen "Lernprozess" gestorben sind. Nichtsdestotrotz: Der Schritt in die soziale Demokratie wurde getan. Er wurde getan, weil ein ganzes Volk dies wollte.

Jahrzehnte später gelang es den Bürgern des damaligen Ostdeutschlands, sich dauerhaft aus einer politischen Diktatur zu befreien.

Man müsste meinen, dass ein Land wie Deutschland gelernt hat, wie man mit demagogischen Schwachköpfen umgehen muss, die Hetze gegen Minderheiten betreiben. Wie man die Thesen von Hetzern, die eine neue Rassenlehre unters Volk bringen wollen, im Keim erstickt. Wie man sie mit Missachtung straft.

Doch nichts dergleichen. Wir leben in einer Zeit, in der ein dummer Demagoge Teile seines unsäglichen Machwerks im "Spiegel" und in "Bild" abdrucken darf. Im aktuellen "Focus" (den ich gestern im Flugzeug kostenlos lesen durfte) wird an drei Stellen (im Vorwort, in einem Beitrag und in einem Essay) in den höchsten Tönen die "Kritikwürdigkeit" der Thesen dieses demagogischen Hetzers gelobt. Das Essay hat die bezeichnende Überschrift "Nachhilfe für Sozialromantiker".

Schön, wie viele Wörter inzwischen im deutschen Sprachgebrauch etabliert wurden, um soziales Denken in Misskredit zu bringen. Gutmensch, Sozialromantik, Wohlfahrtsstaat ...

Nachhilfe könnte ich allerdings wirklich gebrauchen. Ich würde nämlich gerne wissen, wieso die von der sogenannten "Finanzkrise" verursachte Schuldenlast fast ausnahmslos die Ärmsten der Armen tragen müssen, während bisherige und aktuelle Gewinner von Finanzspekulationen völlig unbehelligt bleiben.

Ich würde gern wissen, wieso die Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge (einst bei 42 %, jetzt nur noch 25 %) unangetastet bleibt, während man den Heizungskostenzuschuss beim Wohngeld für Geringverdiener streicht. Dafür wurde die "Brennelementesteuer", die 2,3 Milliarden pro Jahr bringen sollte, verschoben. Die "Finanztransaktionssteuer" – sollte eigentlich ab 2010 kommen: ungewiss. Die bereits unter Schröder massiv gesunkenen Spitzensteuersätze: Unverändert. Einführung einer Vermögensteuer? Immerhin sind die Vermögen der "oberen zehn Prozent" trotz "Finanzkrise" massiv gestiegen! Aber nicht doch. Sowas wäre ja geradezu sozialistisch. Ist doch besser, wenn die Vermögenden ab und zu Allmosen an die Tafeln spenden. Rücknahme der völlig grundlosen Steuergeschenke an Hoteliers: Nicht daran zu denken.

Diese soziale Ungerechtigkeit ist so himmelschreiend, dass sie laut Umfragen inzwischen bereits vier von fünf Bundesbürgern klargeworden ist. Da kommt ein Buch, das in seinen Thesen von vererbbarer Dummheit schwafelt, natürlich genau richtig.

Denn: Wenn die Armen arm bleiben, liegt das nicht an sozialen Ungerechtigkeiten und mangelnden Bildungs-Chancen, die mehr und mehr forciert werden, sondern daran, dass die Armen eben faul und dumm sind und dann auch noch genetisch genauso faule und dumme Kinder zeugen. Denn, so besagtes Buch: Die Fetten sind fett, weil sie zu viel essen. Und die Armen sind arm, weil sie zu blöd und zu faul sind.

Die Reichen sind keineswegs in der Regel deshalb reich, weil sie Vermögen erben, das sich durch Zinsen ohne jegliches Zutun vermehrt. Nein. Sie sind es, weil sie so schlau und fleißig sind. So wie wohl der Autor dieses Buches selbst glaubt, schlau zu sein. Und wenn er - wie kaum ein anderer - durch Staatsgelder reich wurde, dann liegt das keinesfalls an seinem Parteibuch, sondern an seiner überragenden, durch deutschen Fleiß hochtrainierten Intelligenz.

Man müsste lachen, wenn es nicht so ärgerlich wäre. Wir haben hier ein Hetzbuch. Nichts anderes. Und Hetze hat noch nie geholfen, auch nicht, um irgendwelche angeblich "längst überfälligen" Diskussionen anzuregen.

Ich glaube übrigens nicht an vererbte Dummheit. Ich glaube aber daran, dass Dummheit über Bücher und Zeitschriften verbreitet werden kann. "Focus", "Spiegel" und "Bild" können sich also (wieder mal) gratulieren: Sie haben ein gutes Stück dazu beigetragen, Deutschland dümmer zu machen.

(Wer dieser ärgerlichen Angelegenheit doch noch was echt Witziges abgewinnen will, sollte hier klicken.)

3 Kommentare:

  1. Das wurde gerade im neuen Stern (Mann, geh zum Arzt) aufgegriffen. Der Bürgermeister von Berlin-Neukölln beschreibt, wieviel Kindergartenpflicht und Ganztagsschulen bringen könnten. Jedes Jahr ohne Schule kostet einem Kind (egal welcher Herkunft) 4-5 IQ-Punkte. Ein schlaues Volk ist aber von den Politikern nicht wirklich gewünscht. Dumme, vor der Glotze sitzende, Bild lesende Leute sind bequemer.

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  2. Gut, über Sarrazin selbst und sein Buch kann man sich streiten. Er selbst ist sein Jahren als "Enfant Terrible" und Provokateur verschrien (wobei ich nicht so weit gehen würde und ihn wie Sie als Demagogen zu bezeichnen). Auch der (pseudo) wissenschaftliche Anspruch des Buches hält keiner weiteren Überprüfung stand.
    Einige Thesen sind natürlich Quatsch (vererbte Intelligenz) und die Kritiker Sarazins zielen verstärkt auf diese Passagen ab um Sarrazin zu diskreditieren.
    Was mich aber wieder erstaunt ist wie sehr die politische Elite im Sekundenreflex auf Sarrazin eingehackt hat und sofort zum Rücktritt aus allen Ämtern aufgefordert hat, bevor das Buch überhaupt auf den Markt kam.
    Trotz einiger fragwürdiger Passagen im Buch, steht es Hernn Sarrazin zu, sein Recht auf Meinungsfreiheit einzufordern. Und genau diese Reaktion seitens der politischen Elite zeigt wieder einmal, dass es in Deutschland immer noch schwierig ist, die Probleme der Integration unideologisch anzugehen. Jahrelang wurden Kritiker, die auf Probleme der Migration hinwiesen sofort als Chauvinisten und Ewiggestrige bezeichnet. Dieses jahrelange hinwegsehen, das von "Gutmenschen" stark gefördert wurde, hat aber die Probleme erst recht noch verstärkt!!
    Endlich gibt es mal eine bundesweite Debatte sowohl bei der politischen Elite als auch beim Stammtisch über die Probleme der Migration. Und die politische Elite nimmt endlich wahr, dass die Kritiker an der Migration nicht ausschließlich aus dem braunen Milieu kommen, sondern das die Thesen Sarrazins' zumindest zum Teil auf breite Zustimmung stoßen.
    Auch wenn man Sarrazin für einiges zu Recht kritisieren kann- man muss ihm dafür danken, dass er diese Problematik, die nicht zu leugnen ist, endlich mal jedem in Deutschland klargemacht hat. Und der politischen Elite wird endlich klar, dass Kritik an den Problemen der MIgration auch von breiten Teilen der Bevölkerung getragen wird (und ich bezweifle, dass ein Großteil der Bevölkerung braunes Gedankengut gutheißt). Den Politikern wird endlich klar, dass reflexartiges Gutmenschentum keine Lösung ist. Von daher finde ich es sogar gut, dass der "Focus" Sarrazin zumindest in diversen Ansätzen Rückendeckung gibt (und nebenbei bemerkt, schreibt das hier jemand, der selber einen Migrationshintergrund hat, wobei keinen Islamischen)
    Das "unter den Tisch kehren", hat einfach keine Zukunft mehr.

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  3. Freie Meinung ja. Aber auch für die, die den Mann in seinen Positionen für untragbar halten. Dass die Medien ihr eigenes versagen nicht zugeben können und nun auf den Lall von "wenigstens wird jetzt diskutiert" (ja, sicher) pochen, macht es nicht besser.

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