In
zehn oder zwanzig Jahren wird man auf die heutige Zeit zurückblicken und sich verwundert fragen, weshalb viele bei der Entstehung von Scripted Reality so hysterisch und empört reagiert haben, ohne zu erkennen, dass hier nichts anderes als eine
neue Kunstform erschaffen wurde.
Wie, was, wo?
Scripted Reality eine Kunstform? Das ist doch "
Unterschichten-Müll". Scripted Reality ist das böse Zeug, das Qualität wie "
Breaking Bad" oder "
Homeland" ins Nischenprogramm verbannt.
Ich gestehe hier offen: Ich gehörte lange Zeit zu denen, die diese Meinung teilten. Zum einen, weil mich Scripted Reality aufgrund seiner Durchschaubarkeit nicht interessierte (
Ignoranz). Und weil diese Scripted-Reality-Formate aktuell dazu genutzt werden,
dummdreiste Vorurteile gegenüber sozial Benachteiligten zu stärken.
Erst einige Ausschnitte aus der Scripted-Reality-Sendung "Pures Leben" in einer Sendung von Oliver Kalkofe überzeugten mich
endgültig davon, dass hier tatsächlich eine
neue Kunstform geschaffen wurde. Die Bilder von einer dicken Frau, die in Mülltonnen nach Essen sucht und einfach nur frech ist, sind so
anarchistisch, dreist, provokant und drastisch, dass es für mich alle Kriterien erfüllt, die
echte Kunst ausmacht. Das, wofür man früher einen
John Waters gebraucht hat, ist nun also im
Mainstream angekommen. Eine bessere Gegenbewegung zum geleckten Hollywood mit seinen
Photoshop-Avateren und den
sterilen Kulissen ist schlichtweg nicht denkbar.
Und nein: Echte Kunst besteht
nicht darin, dass man
hochbezahlte Stars,
teuere Special Effects oder
mainstreamige Soundtracks hat. Genau das
zerstört zur Zeit die Kunst, wie man an seelen- und witzlosen Kinoproduktionen
sehr gut beobachten kann. Camerons "Avatar" ist
technisch ein Fortschritt, künstlerisch aber eine
Katastrophe. (Übrigens ein Film, der ebenso
lachhafte Klischees bedient wie jede Scripted Reality.)
Natürlich kommt hier immer wieder das Argument auf, dass bei Scripted Reality
Menschen "vorgeführt" werden.
Warum aber werden hier Menschen vorgeführt? Aus einem
einzigen Grund: Weil einige Zuschauer das Gezeigte
für echt halten. (Niemand käme auf die Idee, Charlize Theron würde in einem Film wie "Monster" "
vorgeführt".) Ich las kürzlich die empörte Meldung, dass
jeder zweite Zuschauer Scripted Reality für "echt" hält. Für mich eine
gute Nachricht. Bedeutet es doch: Bereits jeder zweite Zuschauer hält Scripted Reality für
nicht echt. Das wird sich
mehr und mehr durchsetzen. Als die Menschen das erste Mal auf einer Leinwand einen Zug heranbrausen sahen, sind sie angeblich
in Deckung gegangen. Doch Menschen
lernen. Früher waren es getürkte Wrestling-Matche, heute ist es eben Scripted Reality.
Im Moment verhält sich die Scripted-Reality-Industrie noch ein wenig wie die
Porno-Industrie. Mit Knebelverträgen werden Menschen zu Dingen
genötigt, die manche von ihnen dann vielleicht doch nicht tun wollen. Das wird sich aber genau dann ändern, wenn Scripted Reality als
Kunstform erkannt und etabliert ist. Bereits heute wagen es Darsteller wie
Wil Wheaton oder
Matt LeBlanc, sich in Serien wie "The Big Theory" oder "Episodes" unter ihrem echten Namen als
Arschloch darzustellen. Einfach, weil sie Vertrauen darin haben, dass der Zuschauer dies
als Spiel durchschaut. Und es wird der Tag kommen, an dem Teilnehmer und Zuschauer von Scripted Reality wissen, was sie zu erwarten haben. Die Inszenierung wird in den
Vordergrund geraten, und die wahre Person wird sich wie ein Schauspieler hinter der Fassade
verstecken können.
Es wäre
unfair zu behaupten, dass
nahezu alle Scripted-Reality-Formate dummdreiste Vorurteile über
Dicke, Hartz-IV-Empfänger oder
Menschen in der Schuldenfalle bedienen. Die meisten Scripted-Reality-Formate behandeln etwas, das viele beschäftigt: Die
Partnersuche. Das ist ein Thema, das wahrscheinlich schon so hinreichend behandelt wurde, dass es mit den
etablierten Kunstmedien gar nicht mehr darstellbar ist. Was die ärgerlichen
Scripted-Reality-Formate mit Vorurteilen gegenüber sozial Benachteiligten angeht: Dabei handelt es sich leider um
genau die Vorurteile, die in unserer Gesellschaft
seit langem kursieren. Dass es bei Scripted Reality "
besonders schlimm" ist, weil der Zuschauer das Gezeigte für "
echt" hält, sehe ich auch nicht. Viele glauben auch an die Verlässlichkeit von
Schlagzeilen in der Bildzeitung, von geschönten Statistiken in der
Tagesschau und von angeblich selbst recherchierten Artikeln auf
Spiegel online, die in Wahrheit aus dem Dunstkreis der von Arbeitgeberverbänden gegründeten Initative Neue Markwirtschaft stammen. Angesichts dessen entpuppt sich die Scripted Reality sogar noch als harmloses, da
schnell durchschaubares Mittel zur Meinungsmache.
Wer sich Filme aus den
1960er Jahren ansieht, der findet dort auch unendlich viele
Vorurteile gegenüber Frauen, Schwulen und "
Zigeunern". Das allein spricht aber nicht
gegen die Kunstform "Film". Und so ist es auch bei Scripted Reality. Mit den Stilmitteln von Scripted Reality könnte man genauso gut das
Leid von Mobbing-Opfern, die verzweifelte
Jobsuche von Arbeitslosen, das
aussichtslose Abrackern von "Hartz-IV-Aufstockern", die
Demütigung von "Tafel-Gängern" oder die
Tragik einer Magersucht eindrucksvoll darstellen. Und vielleicht sogar
authentischer und nachhaltiger als bei manch einer gekünstelten Kino- oder Serienproduktion. Um das zu erreichen, genügt es aber nicht, das Format Scripted Reality zu verdammen. Vielmehr sollte man Scripted Reality als Kunstform
anerkennen und vorantreiben.
Scripted Reality vermengt Stilmittel, die im Grunde
alt sind, auf originelle Weise
neu. Zum einen ist da natürlich nach wie vor das
klassische inszenierte Drama, das hier mit den Mitteln des
Improvisationstheaters arbeitet. Eine Improvisation, wie sie so wahrscheinlich
tatsächlich nur von Laien überhaupt zu erbringen ist. Doch hier bleibt Scripted Reality nicht stehen. Ganz im Stil von
Brecht wendet sich immer wieder der Laiendarsteller
direkt ans Publikum. Jetzt plötzlich ist auch Blickkontakt mit der Kamera erlaubt, und der Laiendarsteller kann seine
Motive erklären und das soeben gezeigte
reflektieren.
Besonders positiv fällt mir folgendes an Scripted Reality auf: Es gibt wieder den
klassischen Erzähler, der aus dem Off zu hören ist. Das ist ein Element, das unverständlicherweise in zu vielen Filmen fehlt, obwohl Filme wie "
Die zauberhafte Welt der Amelie" gezeigt haben, wie gewinnbringend so eine Erzählerstimme ist. Eine
wesentliche Funktion spielen bei Scipted Reality auch die immer wieder aufploppenden
Texteinblendungen. Damit nutzt Scripted Reality alle zur Verfügung stehenden erzählerischen Mittel:
Texteinblendungen, Erzählerstimme und improvisiertes Theater.
In einer gut gemachten Scripted Reality folgen all diese Stilmittel in einem
so schnellen Tempo, dass eine Serie wie "24" auch nicht mehr Drive hat. Und das wohlgemerkt
ganz ohne Special Effects oder anderen Schnickschnack, mit denen Leute wie Michael Bay heutzutage davon ablenken, dass sie
nichts zu erzählen haben.
Der bei Scripted Reality offensichtliche
Verzicht auf Studio-Kulissen folgt im Grunde der
Dogma-95-Bewegung, die 1995 von dänischen Filmregisseuren wie Lars von Trier als
neue Kunstbewegung eingeführt wurde. Damals wurde das bejubelt.
Endlich, so hieß es, gehe man weg vom Effekte-Kino, hin zu dem, was Film
ursprünglich war. Das war schon damals
großer Schwachsinn. Kino und Effekte sind eine
Einheit, Filme wie "
Metropolis" oder "
Goldrausch" sind ohne Effekte nicht denkbar und gerade dadurch so berühmt geworden.
Jetzt wurde aber Dogma-95
doch eingeführt. Und zwar vollkommen
stimmig in einer eigens dafür geschaffenen Kunstform: Der
Scripted Reality.
Werde ich mir in Zukunft Scripted Reality
ansehen? Nein. Ich habe ja noch nicht einmal
einen Fernseher. Aber ich werde mich nicht mehr dem elitären
Gejammer anschließen. Die Forderung, dass man stattdessen
"bessere" Programme produzieren oder die
besseren Sachen zu besseren Zeiten senden soll, ist doch in Zeiten von unendlicher Programmvielfalt, DVD und Festplatten-Recordern
lächerlich und folgt dem bereits in den 1970er Jahren geäußerten Wunsch, das ZDF solle doch keinen
infantilen Käse wie "Dalli Dalli" verzapfen und stattdessen
echte Kunst zeigen. Heute gilt "Dalli Dalli" als
TV-Kult, die Forderung von damals erscheint heute absurd, während man sich gleichzeitig um das aktuelle Programm sorgt. Fakt ist doch: Damals hätte man von einer
Serien- und Qualitätsvielfalt wie der von heute nur träumen können.
Als das vom
Hollywood-Glamour verwöhnte Publikum plötzlich im Kino Filme wie "
Easy Rider" oder "
Taxi Driver" sah, waren nicht wenige
entsetzt. Und die Argumente waren damals
nicht anders als heute.
Falsche Vorbilder, Kultur- und Niveaulosigkeit, alles nur furchtbar. Jetzt wiederholt es sich beim Scripted Reality. Nur dass die, die sich damals "Easy Rider" begeistert angesehen haben, heute zu denen gehören, die über den neuen Trend
empört den Kopf schütteln.